Wenige Themen sind eine so starke Quelle künstlerischer Inspiration wie die Nacht. Aber was genau ist es, das Künstler seit Jahrhunderten anzieht und noch immer an den dunklen Stunden interessiert? Shadow Came Before The Sun stellt die Arbeiten von 13 in Berlin lebenden Künstler:innen in den Mittelpunkt dieser Diskussion. Das Ethos der Ausstellung lässt sich am besten in Vincent Van Goghs Worten verkörpern: „Ich denke oft, dass die Nacht lebendiger und farbenprächtiger ist als der Tag.“
Kristian Askelund begrüßt uns mit Hilfe seiner Lichtskulptur in der Welt der leuchtenden Nacht. Durch das strahlende orangefarbene Licht wird ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt, das uns zu einem der größten Themen unserer Zeit führt: der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der damit verbundenen Bedrohung durch den Klimawandel. Während auf den ersten Blick die altbekannten Umrisse nordeuropäischer Länder ins Auge fallen, fordern funkelnde Löcher im Papier, welche das Licht direkt durchlassen, Aufmerksamkeit. Jedes Loch stellt eine Offshore-Ölbohrplattform dar und symbolisiert die ständige Lichtverschmutzung, die von Flammen ausgeht, welche Erdgas als Abfallprodukt verbrennen. Von buchstäblichen Landkarten hin zu den Landkarten des inneren Aufruhrs: Luca Cuozzos Illustrationen fungieren als Fackelschein, um sich durch die tiefsten Orte im inneren Selbst zu orientieren. Seine Skulptur Those Radiant Moments Of Shine verwandelt die innewohnende beunruhigende Stille in eine entstellte, fast mumifizierte Präsenz, die sich selbst erhebt, um nach einer verzerrten Realität zu greifen. Für den Künstler symbolisiert diese fragile Kreatur ein ermächtigendes Porträt des Verlangens nach Klarheit.
In Andrea Breinbauers gemalten Szenografien kann der Betrachter einen Blick in einen Zustand der Surrealität werfen, der sich am besten als Traumlogik beschreiben lässt: die Informationen, die das Gehirn während unseres Schlafs verarbeitet und die dem Schlaferlebnis ein Gefühl von Chaos und unlogischer Realität verleihen. Eine bedrohliche Ruhe weist auf einen Zwischenzustand der Bewusstlosigkeit und eine Verspieltheit hin, die sich inszeniert und dennoch spontan anfühlt. Diese ahnungsvolle Ruhe ist auch in Ute Vauk-Ogawas skulpturaler Arbeit Prolonged State of Stillness präsent, die aus dunklen, menschenähnlichen Figuren bestehen, welche in Holzrahmen aufgehängt sind. Die Figuren sind von einem Gefühl von Drang und Bewegung durchdrungen, scheinen aber in der Zeit eingefroren, sogar eingeschlossen zu sein, wie die Fäden, mit denen sie festgehalten sind, verstärken. Dass die Rahmen beschriftet sind, weist auf eine Freigabebereitschaft hin. Diese Sehnsucht nach Freiheit ist auch eine direkte Verbindung zu den eigenen ambivalenten Erfahrungen der Künstlerin mit den dunklen Stunden, denen sie in ihrer Kindheit großen Respekt entgegenbrachte und die in späteren Jahren zu einer endlosen Inspirationsquelle wurde.
Aber die menschliche Stille während der Nacht lädt andere Kreaturen ein, sich frei zu bewegen. Mit leuchtenden Augen im Dunkeln, die möglicherweise die Lichter eines vorbeifahrenden Autos oder einer Taschenlampe reflektieren, bietet Kerstin Kary in ihren Bildern Einblicke in die Welt der nachtaktiven Tiere, kurz beleuchtet für das menschliche Auge. Wir werden in ein Universum eingelassen, das uns Menschen, tagaktive Tiere, die künstliches Licht brauchen, um sich durch die Nachtstunden zurechtzufinden, fast fremd ist. Mit dieser Gemäldeserie möchte die Künstlerin auf das konzentrieren, was im Dunkeln und ohne Lärm im Wald passiert, wo jedes kleine Knacken oder Kreischen sich lauter und schwerer anfühlt.
Die Nacht kann auch als Zufluchtsort fungieren. Wie in Ulrich Vogls intimer, besinnlicher Installation, die von einer bestimmten Lebensphase Pier Paolo Pasolinis inspiriert ist. Während des Zweiten Weltkriegs versteckte er sich mit seiner Mutter in einer kleinen Kapelle außerhalb von San Vito in Norditalien. Fenster Pasolini wurde für eine Ausstellung geschaffen, die in der dortigen Seidenfabrik stattfand. Eine schwache Lampe, die über einen Spiegel reflektiert wird, erzeugt eine Szenerie, die an eine ruhige Vollmondnacht erinnert, in der Maulbeerzweige leise im Wind rascheln. Diese Äste wurden von einem Baum neben der Kapelle gesammelt, aus der er schließlich vertrieben wurde, nachdem seine Homosexualität entdeckt worden war. Der hohe Preis der Zuflucht wird auch in Sina Samavatis vielschichtiger Videoarbeit deutlich, in der er Schlaflosigkeit durch Erinnerungen an Teenagerangst und -komplexität erforscht. Als Erzählung von Selbstidentität und den emotionalen Implikationen des Lebens in der Diaspora beschäftigt sich die Arbeit auch mit Vorstellungen von Religion, Klasse und Exil, kontextualisiert durch die existenzielle Bedrohung, in eine Heimat zurückkehren zu müssen, die es nicht mehr gibt.
Den Glauben, dass es nur in der Nacht ruhig ist, stellen die folgenden drei Künstler in Frage, indem sie das Ungehörte, das Ungesehene oder sogar das Uneinholbare dieser Zeit zeigen. In Samir Nahas’ Video Essay_21 patrouilliert die Hauptfigur nachts unermüdlich durch die Straßen und versucht, den Mond einzufangen, während er über den Prozess nachdenkt, der der Arbeit Form verleiht. Für den Künstler ist das Einfangen dieses Himmelskörpers das Ergebnis einer intensiven Methodik der nächtlichen Gewohnheiten, nachdem er drei Monate lang nachts durch die Straßen einer Stadt gewandert war und sich von der Atmosphäre, die ihm begegnete, verschlucken ließ. Das Einfangen der Nacht ist auch in Clémentine Rettigs Arbeit Flutter präsent, diesmal durch eine Klanginstallation, die ihre Gäste einlädt, in die französischen Pyrenäen entführt zu werden. Die Klänge der Nacht offenbaren sich und die verschiedenen Phasen von der Abenddämmerung bis zur Nacht in den Mittelpunkt stellen die Bühne. Eine Reihe von Skulpturen vervollständigt die Installation. Als organisches, physisches Echo der Natur geformt, untersuchen sie die Zerbrechlichkeit und Unmittelbarkeit der natürlichen Umgebung. Kirsten Heuschens Wandinstallation Multiply fängt das Sonnenlicht buchstäblich über Cyanotypien auf Veranstaltungsplakaten ein, die sie von den Straßen gesammelt hat, und bringt es in einen nächtlichen Kontext, indem sie das starke Blau und die Textur der Dämmerung hervorhebt. Sie behauptet, dass sich die Nacht endlos für sie anfühlt, und nutzt ihre Arbeit, um den Betrachter in einen immersiven Spaziergang durch dunkle Gassen zu entführen, wo Schatten ihren Platz einnehmen, um am Leben teilzuhaben oder verlorene geliebte Personen wieder auftauchen, um die Reise zu begleiten.
Soji Shimizus Bilder nehmen uns mit auf nächtliche Autofahrten, ziellos durch die dunklen Landschaften auf der Suche nach etwas, das er dem Betrachter letztlich vorenthält. In seinen Bildern versucht er zu zeigen, dass die Nacht das Licht betonen kann, anstatt Farben zu verbergen. Intensives, gesättigter Blues zeigt eine Szene in zwei Schnappschüssen, eine momentane zufällige Begegnung zwischen einem Autofahrer und einer Katze. Durchdringend leuchtende Augen erscheinen im Lichtkegel der Scheinwerfer am Straßenrand sowie im Rückspiegel. Flüchtige Erlebnisse und Einblicke hinterlassen unterbewusste Nachbilder, genau wie in der dritten Leinwand, die einen dunklen Wald in ruhigen Grautönen zeigt.
Einige der bestverdienenden Spieler im heutigen kapitalistischen System verlassen sich stark auf die Bemühungen der Nachtarbeiter. Riccardo Bucks intimes Notizbuch mit Zeichnungen seiner Kollegen, entstanden während eines Jobs nachts Lieferwagen zu beladen, war ursprünglich als Abschiedsgeschenk für den Teamleiter gedacht.. Dekontextualisiert könnte es als Protest gegen die harte Arbeit gelesen werden, die in den späten Stunden geleistet wird, um den hohen Anforderungen einer Gesellschaft gerecht zu werden, die ihr Konsumverhalten nicht reflektiert. In den Arbeitspausen zeichnet er, gibt einer oft anonymen Arbeit Gesichter und fordert das Recht, gesehen zu werden, auch wenn er Teil eines oft verborgenen Apparats war. Aber was wäre dieser hoch perfektionierte kapitalistische Mechanismus ohne die Macht des Marketings? Pako Quijadas Film Acta Nocturna bietet einen der wenigen humorvollen Einblicke in diese Ausstellung, indem er die Absurdität des Marketings thematisiert, um die Müdigkeit und Verzweiflung des chronisch schlaflosen Zuschauers ausnutzt. Sie nutzen Einflüsse aus einer Vielzahl von Quellen, um zu zeigen, wie etwas so banales wie Schlafen von Konzernen als Erlebnis vermarktet werden kann, das ständig verfeinert und optimiert werden muss. Wie Pawlow’sche Hunde wird der Betrachter zum Konsumenten konditioniert. Durch die Wiederholung von Botschaften, transformiert er sich immer mehr vom Kunden selbst zum eigentlichen Produkt.
Die Nacht entpuppt sich schließlich als oft stürmisches, aber höchst produktives Versteck nicht nur für ihre eigenen Interessen, sondern auch für die Künstler selbst.
Über Othergrounds
Othergrounds ist ein in Berlin ansässiges Projekt eines Künstler:innen-/Kurator:innenkollektivs mit starkem Fokus auf zwei Standbeine: zum einen Kunst, welche politische Wirkung verfolgt, zum anderen auf Engagement mit der lokalen Künstlergemeinschaft. Wir haben auch vermehrtes Interesse an Kunst, die die Natur als direkten und wichtigen Teil des kreativen Prozesses einlädt. Wir glauben, dass Kunst als ein mächtiges politisches Instrument eingesetzt werden kann und dass Künstler als Seismograf für Ungerechtigkeit und Umweltursachen der Zeit, in der sie leben, fungieren können. Dieses Projekt soll in seiner Struktur fließend sein, mit einer Gruppe von Kernmitglieder, aber offen für Kooperationen mit anderen Künstler:innen und Kurator:innen.
Shadow Came Before The Sun ist unsere dritte Ausstellung und wird von Ecosia gesponsert, der Suchmaschine, die mit ihren Gewinnen Bäume pflanzt. Für weitere Informationen besuchen Sie unsere othergrounds.org oder folgen Sie uns auf Instagram (@othergrounds).